- Kalifen: Macht und Ohnmacht in der Mitte der Welt
- Kalifen: Macht und Ohnmacht in der Mitte der WeltKampf um die ReichsideologieAbd al-Malik hatte die Zeichen der Zeit erkannt: Ein »islamisches« Reich war im Entstehen begriffen. Aber die Kräfte, die sich regten, wollten sich nicht mit den Nachkommen jener Mekkaner verbinden, die bis zuletzt den Propheten bekämpft hatten. Nicht nur die Schiiten, sondern auch die aus ihnen hervorgegangenen Charidjiten ließen sich nicht mit dem omaijadischen Kalifat aussöhnen, obwohl die Omaijaden vieles daran setzten, eine »einträchtige Gemeinschaft« aller Muslime zu schaffen. Schon Abd al-Malik hatte um dieses Zieles willen die seit Moawija I. so gut eingespielten Verbindungen zu den Stammesführern gefährdet. Überdies musste ein sich entschieden »islamisch« gebendes Kalifat, das die verklärende Erinnerung an Mohammed und seine ersten Nachfolger in Medina aufgriff, zugleich auch die Erinnerung an den damals nur mühsam überdeckten Streit zwischen dem jemenischen und dem »ismaelitischen« Teil des Arabertums neu beleben. Es ist nur zu verständlich, dass dieser Zwist unter Abd al-Malik aufloderte; Versuche, die Jemenier in die Ismael-Genealogie einzugliedern, sind aus jener Zeit belegt und zeigen deutlich die Nöte des Reiches: Indem die Herrscher auf die von Mohammed ausgelösten Wandlungen in der Gesellschaft und im Denken eingingen, verloren sie die herkömmliche Grundlage ihrer Macht, ohne jedoch eine neue zu erwerben.In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts wurden diese Konflikte ausgetragen. Der Stammeszwist erfasste das ganze Reich; schiitische und charidjitische Bewegungen erschütterten vor allem den Irak und die Arabische Halbinsel. Geschürt wurde der Missmut durch die Spezialisten der Überlieferung von der angeblich mit Heil erfüllten Zeit »am Anfang«. Selbst griffen sie in die Kämpfe nicht ein, aber sie gaben immer neue Stichwörter, mit denen die Aufrührer ihr Tun rechtfertigten. Allmählich bildete sich eine breite, zugunsten des gemeinsamen Zieles, der Ablösung der fluchwürdigen Omaijaden, alle internen Gegensätze hintanstellende Opposition heraus. Die jemenischen Araber, mehr und mehr ohne Zugang zum Kalifen, ließen sich mit der Schia, der Partei Ali ibn Abi Talibs, ein; Alis Beziehungen zu ihnen wurden nun, Jahrzehnte nach seinem Tod, erst eigentlich fruchtbar; selbst Charidjiten begannen eine Zusammenarbeit mit schiitischen Prätendenten; ein Mitglied der Prophetenfamilie, also ein Angehöriger der Banu Haschim, der allgemeine Zustimmung erlange, solle zum Kalifen ausgerufen werden und nach dem Vorbild Mohammeds regieren. So lautete die allen Feinden der Omaijaden Genüge tuende Formel der Opposition, die als »Haschimija« bezeichnet wird.Von den Omaijaden zu den AbbasidenRegen Anklang fanden solche Parolen vor allem im Osten Irans, wo arabische Einwanderer und Einheimische bereits miteinander verschmolzen waren und die vermeintliche Stammesgebundenheit der Politik des Kalifats mit Widerwillen betrachteten. Es kamen lokale Querelen hinzu, schließlich auch ein genialer Organisator, Abu Muslim, der die bloße Empörung in einen zielstrebigen Kampfeswillen umwandelte. Er tat dies im Namen eines Prätendenten aus der Nachkommenschaft des Abbas, eines Oheims des Propheten — die obige Formel sagte nichts darüber aus, welcher Linie der neue Kalif angehören sollte —, und schlug 747 los. Erstaunlich rasch brach in Iran die Herrschaft der Omaijaden zusammen. Bereits 749 erreichte das Heer der Haschimija den Irak. In Kufa wurde dem ersten Abbasiden, Abu l-Abbas as-Saffah, gehuldigt.Es gelang dem Haschimija-Heer rasch, auch die Kernlande der islamischen Welt in seinen Besitz zu bringen. Der letzte omaijadische Kalif wurde in Ägypten auf der Flucht gestellt und erschlagen. Allein Andalusien, erst seit wenigen Jahrzehnten arabisch, wurde niemals abbasidisch. 756 ging dort einer der wenigen Überlebenden aus dem Hause der Banu Omaija an Land. Er wurde der Ahnherr der omaijadischen Herrscher von Córdoba, unter denen das arabische Spanien im 10. Jahrhundert seine Glanzzeit erleben sollte.Der haschimitische Umsturz war geglückt; dem neuen Herrscherhaus konnte man die Nähe zum Propheten nicht absprechen, wenn auch die Anhänger der Aliden wider den Stachel löckten und den ihnen unerwünschten Ausgang der Ereignisse zu berichtigen trachteten. Die alidische Opposition gegen die Abbasiden war jedoch zu sehr zersplittert, als dass sie je wirklich gefährlich hätte werden können. Das Charidjitentum, dessen Ideal die alte Kampfgemeinschaft der Gläubigen gewesen war, mäßigte sich. Der Zwist zwischen den ismaelitischen und jemenischen Arabern flaute ab. In den großen Städten, in denen eine kosmopolitische Kultur heranreifte, war die Stammeszugehörigkeit von geringerem Gewicht; außerdem wirkte sich der universalistische Gehalt der Botschaft Mohammeds mehr und mehr aus. Schon in der Haschimija-Bewegung war es nicht mehr üblich gewesen, den Beinamen von dem Stamm, dessen Glied man war, herzuleiten, sondern vom Wohnort — ein sehr bezeichnendes Indiz dafür, dass sich eine zwar arabisch dominierte, jedoch die Stammesgrenzen hinter sich lassende Gesellschaft entwickelt hatte, deren einende Mitte der islamische Glaube war.Recht und Kultur: Die Abbasiden auf dem Höhepunkt ihrer MachtIn den ersten Jahrhunderten des abbasidischen Kalifats setzte eine vom Hofe geförderte vielfältige Arbeit an den zunächst noch sehr rohen Grundlagen eines islamischen Verwaltungs- und Steuerrechts ein. Des Weiteren wurde das Amt des Kadis als eines mit der allgemeinen Rechtspflege beauftragten Vertreters des Kalifen geschaffen; für alle größeren Städte wurde ein Kadi ernannt, die Verwaltung des Gerichtswesens wurde in Bagdad zusammengefasst. Die von den Spezialisten der Überlieferung gesammelten Berichte über die Zeit Mohammeds und seiner ersten Nachfolger, aber auch die Praxis, wie sie sich eingebürgert hatte, und auch das Gutdünken der Kadis gingen in das nun entstehende Recht ein. Wieder allerdings fühlten sich jene Überlieferer enttäuscht — das, wovon sie träumten, der Neubeginn der verklärten prophetischen Zeit des Anfangs, trat nicht ein. Im selben Maß, in dem sie sich dem neuen Kalifat verweigerten, gewann bei Hofe eine rationalistische Strömung an Einfluss; ihr galt der Kalif als eine dank der verwandtschaftlichen Nähe zu Mohammed mit einem besonderen Charisma ausgezeichnete Person; unter deren Leitung seien die Gelehrten aufgerufen, in einem mit Argumenten des Verstandes ausgetragenen Streit einen rational begründeten Islam zu erarbeiten, der von jedem Gläubigen angenommen werden und so die innere Einheit des Reiches gewährleisten solle. Der Kalif Abd Allah al-Mamun war der energischste Verfechter solcher Ideen, die, wie zu erwarten, auf den erbitterten Widerstand der Überlieferer stießen, der Kenner der sunna, der Verfahrens- und Denkweise des Propheten. Um sie gefügig zu machen, setzte al-Mamun kurz vor seinem Tod eine Inquisition ein, die bis 847 tätig war, ihr Ziel aber nicht erreichte. Im Gegenteil, es wuchs nun, mit Rückschlägen zwar, aber doch stetig, der Einfluss der Sunniten auf das abbasidische Kalifat; seit dem frühen 11. Jahrhundert ist dessen Einbindung in das Sunnitentum unbestritten. Für den Kalifen selbst bedeutete dies, dass er auf den Anspruch auf ein seiner Herkunft zugeschriebenes Charisma verzichtete und sich nur noch als eine Art oberster Vollstrecker der prophetischen Überlieferung verstand. Deren Bewahrung und Auslegung wurde dann freilich Sache eines Gelehrtenstandes, der zwar allmählich die staatlichen Ämter etwa in der Rechtspflege eroberte, sich jedoch ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit vom Kalifen bewahrte.Wenn man vom frühen 9. Jahrhundert absieht, entfaltete sich das geistige und kulturelle Leben im islamischen Reich unabhängig vom Hof und dessen politischen Zielsetzungen. Der Kalif al-Mamun ist also die hervorstechende Ausnahme: Er gründete das berühmte »Haus der Weisheit«, eine Institution, die die Übersetzung fremdsprachiger Literatur in das Arabische förderte; übertragen wurden damals Werke medizinischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Inhalts, Ausgangssprachen waren vorzugsweise das Syrische und das Griechische. Ein ägyptischer Autor des 15. Jahrhunderts findet es übrigens tadelnswert, dass al-Mamun die Übersetzung philosophischer Werke zugelassen habe — was ein Schlaglicht auf die später nicht mehr verständliche Offenheit der geistigen Situation der frühen Abbasidenzeit wirft.Die Zurückhaltung der Kalifen in den Belangen des Geisteslebens, die man schon seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert bemerkt, entspricht der sich rasch verringernden Macht der Abbasiden. Zu Anfang ihres Kalifats hatten sie gewiss eine ganz andere Auffassung von Herrschaft, die sie auch zum Ausdruck zu bringen wussten: Sie sahen sich als den kraftvollen Mittelpunkt eines Weltreiches. Nicht nur die schon erwähnte Herrscherideologie belegt dies, sondern auch der Grundriss der von al-Mansur angelegten neuen Residenz Bagdad: Die sich im rechten Winkel kreuzenden Hauptstraßen, die von vier Seiten her in die kreisförmige Anlage hineinführen, markieren dort, wo sie sich schneiden und wo der Palast des Kalifen liegt, den Mittelpunkt des Erdenrundes. Als diese Palaststadt unter al-Mansur errichtet wurde, war es trotz mancher innenpolitischer Schwierigkeiten möglich, Fachkräfte aus allen Teilen des Reiches zusammenzuziehen und auch die Versorgung der vielen Beschäftigten sicherzustellen. Rasch bildeten sich um die bewehrte Palaststadt herum Märkte und weitere Ansiedlungen; die hohen Würdenträger und die Prinzen ließen ihre Residenzen ebenfalls außerhalb der Gründung al-Mansurs errichten. So wuchs Bagdad in wenigen Jahrzehnten zu einer Weltstadt heran, die die beiden Mittelpunkte des arabisch-islamischen Geisteslebens im Irak, Basra und Kufa, beerbte.Der Niedergang der AbbasidenAllein, die glanzvolle Zeit währte nur wenige Jahrzehnte.Harun ar-Raschid, den die spätere Überlieferung so sehr idealisiert, hatte glänzende Siege gegen Byzanz erfochten; im Innern aber ließ er sich die Zügel aus der Hand nehmen. Alle Macht verlagerte sich in den Klan der Barmakiden, der seit längerem den Abbasiden diente. Die Barmakiden, aus Ostiran stammend, trieben Politik einseitig zugunsten der Nachkommen jener Haschimija-Führer, die den Abbasiden zum Kalifat verholfen hatten; dies stieß auf den Widerstand breiter Kreise in der Bagdader Bevölkerung. Am Hof bildeten sich zwei Parteien, eine, die zu den Barmakiden hielt und den zweiten Kronprinzen Abd Allah al-Mamun zu den Ihrigen zählte; die Gegenpartei konnte auf Mohammed al-Amin, den ersten Thronfolger rechnen. Um ihren Einfluss zu sichern, überredeten die Barmakiden Harun zu einer Art Reichsteilung, die 802 während der Pilgerfahrt in Mekka besiegelt wurde. Demnach sollte al-Mamun Statthalter des ganzen Ostens sein und al-Amin sollte ihn bei seiner Thronbesteigung nicht absetzen dürfen. Obwohl die Barmakiden kurz darauf gestürzt wurden, blieb die Vereinbarung in Kraft, die nach dem Tod Haruns zu einem Bürgerkrieg führte, in dessen Verlauf al-Mamun siegte. Was al-Mamun in Besitz nehmen konnte, war ein verwüstetes Bagdad und ein Reich, das sich in einzelne Teile aufzulösen begann. Schiitische Aufstände waren hierbei am wenigsten gefährlich; sie konnten unterdrückt werden. Beängstigender war es, dass die Helfer ihren Lohn einforderten. Tahir ibn al-Hosain, der Feldherr, dem al-Mamun seinen Triumph verdankte, machte sich im Osten selbstständig, formal zwar als Statthalter fungierend, faktisch aber als Gründer eines Herrscherhauses, das ein halbes Jahrhundert Iran regierte. Schon vorher hatte Harun seinen nordafrikanischen Gouverneuren aus dem Geschlecht der Aghlabiden de facto Autonomie zugestehen müssen. Al-Mamuns Traum, die Einheit des Reiches durch Vernunftargumente herzustellen, war also recht weltfremd, und es war töricht, mit der Inquisition die inzwischen sunnitisch gesonnene Mehrheit der Muslime gänzlich zu verprellen.Was mit der Theologie nicht zu erreichen war, versuchte al-Mamuns Nachfolger al-Mutassim mit militärischen Mitteln zu bewirken: dem Kalifen den überlegenen Part im Spiel der Kräfte zu sichern. Er verschaffte sich türkische Kriegssklaven aus Innerasien, wo unlängst neue Gebiete für den Islam gewonnen worden waren, und ließ sich eine neue Residenzstadt, Samarra, errichten. Nur zu bald wurde aber offensichtlich, dass diese Söldnertruppen die Finanzkraft des Kalifen bei weitem überstiegen und ihn zu einer Marionette rivalisierender Militärs machten.Im Zeitraum von der Mitte des 9. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts beobachtet man mehrere gescheiterte Versuche, das nach Bagdad zurückverlegte Kalifat vor der gänzlichen Auszehrung zu retten; zuletzt stand es unter dem fragwürdigen Schutz einer in sich zerstrittenen westiranischen Dynastie, der Bujiden. Erst unter den türkischen Seldschuken, die 1055 Bagdad einnahmen, wuchs den Abbasiden neue Bedeutung zu. Der Anführer der Seldschuken, mit dem jetzt in Gebrauch kommenden Herrschertitel Sultan geschmückt, wurde durch den Kalifen der Abbasiden zum Statthalter mit unbeschränkten Befugnissen in allen Ländern erhoben, in denen die Seldschuken Macht ausübten; die Usurpation wurde auf diese Weise legitimiert, was insofern für die Muslime von großem Gewicht war, als sie nur unter einer legitimen islamischen Staatsautorität die in Gemeinschaft auszuübenden Riten in einer auf das Verdienst für das Jenseits anrechenbaren Form vollziehen konnten. Für alle islamischen Herrscher, zumindest soweit sie sich zum Sunnitentum bekannten, blieb der Kalif somit ein politischer Faktor von einigem Rang. Dies änderte sich auch nicht, als 1258 die Mongolen Bagdad eroberten und verwüsteten und den Abbasiden al-Mutassim ermordeten. Das sich ab 1260 in Kairo festigende Sultanat der Mamelucken ließ das Kalifat der Abbasiden wieder aufleben. Bis zur Eroberung Ägyptens durch die Osmanen im Jahre 1517 blieb der abbasidische Kalif ein oft zu Unrecht unterschätzter Faktor im Spiel der mameluckischen Sultane und Militärführer.Bedeutung und Rolle des KalifatsDie Geschichte des islamischen Reiches unter dem abbasidischen Kalifat ist also längst nicht so glanzvoll verlaufen, wie dies gemeinhin angenommen wird. Dieser Widerspruch erklärt sich daraus, dass die Europäer von den Abbasiden, vor allem von Harun ar-Raschid, aus den im späteren Mittelalter in der heute vorliegenden Form zusammengestellten Märchen aus 1001 Nacht erfahren haben. Sie zeichnen einen Herrscher, der mit Schlauheit die Gedanken seiner Untertanen aushorcht und dementsprechend seine Entscheidungen fällt, die allein einem naiven persönlichen Gerechtigkeitsempfinden entspringen und zudem auf einen schier unermesslichen Reichtum bauen können. Von den Nöten des Reiches, von der politischen Zerrissenheit, von den Machtkämpfen und dem wirtschaftlichen Verfall ist hingegen wenig bekannt. Auch der gebildete Muslim denkt, wenn es um die Abbasiden geht, zuallererst an das verklärte goldene Zeitalter unter Harun, von dem er aus derselben Quelle gehört hat. Allerdings müsste man ihn fragen, wieso trotz der Zerrissenheit des islamischen Reiches die Idee der Einheit über Jahrhunderte so ungebrochen fortleben konnte, dass die Verklärung der frühen Abbasidenzeit glaubwürdig blieb. Wofür stand und steht dem sunnitischen Muslim das Kalifat?Am Anfang dieses Textes war von dem Bemühen des Omaijaden Abd al-Malik die Rede, dem Reich, das bis dahin von seinem Herrscherhaus wie ein großer Stammesbund regiert worden war, eine islamische Grundlage zu geben. Die Riten, in denen der von Mohammed verkündete Glaube praktiziert wurde, sollten das einende Band sein, mit dem das von Bürgerkriegen zerrissene Gemeinwesen zusammengehalten werden konnte. Politisch scheiterten die Omaijaden. Die Idee einer religiös fundierten politischen Gemeinschaft, wie sie Mohammed in den kleinräumigen Verhältnissen Medinas für kurze Zeit hatte verwirklichen können, und zwar als Kampfgemeinschaft der Gläubigen, und wie sie von Abd al-Malik den Zeitumständen entsprechend umgeformt worden war, überlebte den Übergang des Kalifats an die Abbasiden unbeschadet. Bei ihnen wurde sie zunächst in zwei Spielarten wirksam: der Kalif als charismatischer Führer, legitimiert durch die Blutsverwandtschaft mit Mohammed, und der Kalif als Lenker eines rationalen Erkenntnisprozesses, der zur Auffindung einer allseits gebilligten Form des Glaubens und des in ihm wurzelnden Gesetzes führen sollte. Das Scheitern der von al-Mamun und seinen Nachfolgern al-Mutassim und al-Wathik betriebenen Inquisition brachte den Triumph des Sunnitentums mit sich. Dessen Anfänge reichen etwa in die Zeit Abd al-Maliks zurück; seither stieg es im Laufe von etwa zwei Jahrhunderten zur alles beherrschenden geistigen Macht der islamischen Kultur auf. Im Sunnitentum werden die Einrichtungen des Staates, die Normen der Politik, die empfehlenswerten Verhaltensweisen des Individuums auf die Überlieferung vom Propheten bezogen. Nicht allein im Vollzug der Riten, sondern im Nachleben dessen, was die Überlieferung über Mohammed zu berichten weiß, findet nun der Gläubige seinen sicheren Weg durch die Fährnisse des Diesseits hin zum Weltgericht.Nicht also die Zugehörigkeit zu einem Herrschaftsbereich eint nunmehr die Gläubigen, sondern die Überzeugung, gemeinsam nach dem Beispiel Mohammeds schon hier und jetzt Gottes Gesetz entsprechend zu leben. Wie angedeutet, ist jede islamische Obrigkeit legitimiert, sofern sie in der Wahrung dieses Gesetzes ihren höchsten Daseinszweck erkennt; die faktische Reichweite und die Beschaffenheit dieser Obrigkeit sind demgegenüber zweitrangig. Die Verworrenheit der politischen Verhältnisse und die bisweilen offenkundige Ohnmacht des Kalifen bleiben gegenüber dem Gewicht des prophetischen Lebensideals zweitrangig: Ein islamisches Reich vermag die Zerrissenheit seines praktischen Gefüges zu ertragen.Die sunnitische Kalifatsidee war daher mit den politischen Verhältnissen, wie sie sich seit der Mitte des 9. Jahrhunderts herausbildeten, durchaus zu vereinbaren. Das Leben des einzelnen Gläubigen war zwar in das Spannungsverhältnis zwischen dem Machthaber und den Untertanen einbezogen; doch seine eigentliche Orientierung waren vor allem die seit dem 11. Jahrhundert aufblühenden Sufi-Orden; in ihnen wurde ein zur Mohammed-Frömmigkeit vertieftes Sunnitentum gepflegt, das freilich auch mit Gedankengut angereichert sein konnte, das nicht zum ursprünglichen Bestand der prophetischen Lehre gehört hatte, sondern die Mannigfaltigkeit der Kulturen ahnen ließ, die sich das islamische Reich angeeignet hatte.Prof. Dr. Tilman NagelGrundlegende Informationen finden Sie unter:Arabersturm: Ein Weltreich entsteht
Universal-Lexikon. 2012.